Drei Pilotfabriken als Technologiedrehscheibe

Die Pilotfabrik der TU Wien will KMU in Österreich bei der Digitalisierung unterstützen
Die Pilotfabrik der TU Wien will KMU in Österreich bei der Digitalisierung unterstützen © TU Wien
Die Pilotfabrik an der TU Graz bietet Einblicke und Beispiele für modernste Methoden und Ausführungen in einer digitalisierten Fabrik
Die Pilotfabrik an der TU Graz bietet Einblicke und Beispiele für modernste Methoden und Ausführungen in einer digitalisierten Fabrik © Institut für Fertigungstechnik, TU Graz
Das Team der LIT Factory (v. l.): Bernhard Löw-Baselli, Gerald Berger-Weber, Georg Steinbichler, Zoltan Major, Klaus Straka
Das Team der LIT Factory (v. l.): Bernhard Löw-Baselli, Gerald Berger-Weber, Georg Steinbichler, Zoltan Major, Klaus Straka (nicht am Bild: Jörg Fischer, Alois Zoitl) © JKU Linz
Portrait Claudia Schickling, Leiterin Pilotfabrik Industrie 4.0
Claudia Schickling, Leiterin Pilotfabrik Industrie 4.0 © TU Wien
Portrait Georg Steinbichler, Leiter LIT Factory
Georg Steinbichler, Leiter LIT Factory © ENGEL
Portrait Rudolf Pichler, Leiter smartfactory@tugraz
Rudolf Pichler, Leiter smartfactory@tugraz © TU Graz

06.10.2022

Um bei Innovationen im internationalen Wettbewerb mithalten zu können, dürfen Wissenschaft und Wirtschaft kein Paralleluniversum bilden. Die drei heimischen universitären Pilotfabriken Linz, Wien und Graz haben deshalb eine Informationsdrehscheibe geschaffen, um Industriebetrieben einen niederschwelligen Zugang zu Zukunftsthemen zu ermöglichen. Ein Projekt demonstriert anhand zweier Anwendungsfälle die Praxistauglichkeit entlang der Wertschöpfungskette.

Die Anforderungen an gegenwärtige und künftige Innovationen werden immer komplexer. Eine rein technische Funktionssteigerung reicht nicht mehr aus, um die dicht gewordene Bedarfslage für ein neues Produkt oder einen neuen Prozess hinreichend zu bedienen. Rechtliche Rahmenbedingungen, umfassende Sicherheitsvorkehrungen, ökologische Unbedenklichkeit, soziale Verträglichkeit und viele Aspekte mehr müssen heute und in Zukunft im Innovationsprozess bewältigt werden.
 

KMU oft außen vor

Um all dem gerecht zu werden und Nutzen durch Digitalisierung entlang der Wertschöpfungskette zu stiften, ist ein umfangreicher Informationsaustausch zwischen den Kompetenzträgern notwendig. Das Beschaffen von Informationen ist infolge ihres Überangebots ein oft mühsamer und langwieriger Prozess, insbesondere wenn es um die Überprüfung ihrer Qualität geht. Für KMU stellt der Zugang zu Informationen eine große Hürde dar, weil die gemeinsame Sprache fehlt, weil Barrieren gegenüber Forschungsinstituten bestehen und die Orientierung, was möglich wäre, insgesamt fehlt. Zusammenarbeit erfolgt daher oft nur in kleinem Rahmen und zumeist bilateral. Die Effizienz eines Teams kommt entschieden zu kurz.
 

Datenplattformschließt Informationslücken

Mit dem Innovationslabor „PilotLin-X“ entsteht nun die Datenplattform AMIDS (Austrian Manufacturing Innovation Data Space). AMIDS bietet für Innovationsvorhaben ein maximales Angebot, was das Bereitstellen und den Austausch von Informationen betrifft. Auf Basis der Gaia-X-Initiative und -Technologie sowie eines darin domänenspezifisch einzurichtenden Datenraums soll eine Informationsdrehscheibe geschaffen werden, die auf einfache Weise ermöglicht, kooperativ mit anderen das zumeist komplexe Innovationsvorhaben effizient zu bearbeiten. Erklärtes Kernziel: Der Zugang zu diesem Datenraum muss äußerst einfach und niederschwellig sein. Trotzdem ist ein hohes Maß an Datensicherheit und Rechtssicherheit gegeben – flankiert von höchster Transparenz im Bereich Datenverkehr und Datensicherung. Die notwendigen Infrastrukturen werden im Innovationslabor geschaffen, das von einem noch zu gründenden Verein betrieben werden soll.
 

Ökologie ist oberste Prämisse

Das Innovationslabor wird der erste Datenraum auf Gaia-X-Basis in Österreich werden. Es wird ein Platz sein, wo Wissenschaft und Unternehmen zusammentreffen. Das Labor, das auf den Produktionssektor zugeschnitten sein wird, soll sich stark an einer nachhaltigen Produktion orientieren. Um die Ziele in Europa punkto Klimaneutralität zu erreichen, gilt es vor allem, über die Wirkung der Netzwerke auch ökologische Zusammenhänge und Treiber darzustellen und aufgrund der verbesserten Durchgängigkeit und Transparenz der Daten die besseren Entscheidungen zu treffen. Der Datenraum soll somit auch über umfassende Informationen wie gesetzliche Grundlagen, Kennzahlen und Bewertungsmaßstäbe für den CO2-Footprint, Verwertungs- und Entsorgungsmöglichkeiten, Wertstoffabnehmer und weitere Netzwerke zur Kreislaufwirtschaft verfügen.
 

Spielwiese für KMU

Ab November 2022 startet der Aufbau dieser leistungs- und wettbewerbsfähigen, sicheren und vertrauenswürdigen Dateninfrastruktur. Das Innovationslabor ermöglicht österreichischen Unternehmen – vor allem auch KMU – den Datenraum für die eigenen Tätigkeitsbereiche zu testen und Erfahrungen zu sammeln. Es werden spezielle Testumgebungen (Szenarien) und Simulationen zur Verfügung gestellt – im Sinne einer „Spielwiese“ für KMU.

„In zwei bis drei Jahren will das Innovationslabor Kurse und Schulungen anbieten, um Interesse bei den KMU zu wecken und ihnen die Möglichkeiten näherzubringen. Ebenso wird ein Support für die Nutzer des Datenraums bereitgestellt. Später sollen für KMU auch Innovationsworkshops und Machbarkeitsstudien angeboten werden“, blickt Gerald Berger-Weber, Vorstand des IPPD – Institute of Polymer Processing and Digital Transformation der JKU Linz, in die Zukunft.


Anwendungsfälle richtungsweisend für „PilotLin-X“

Bei modernen Wertschöpfungsketten ist das Vernetzen von Partnern notwendig. So sind schon zahlreiche Datenmodelle und -plattformen entstanden. Diese sind aber oft mehr theoretischer Natur als anwendungserprobt. Der im Innovationslabor entwickelte Datenraum AMIDS wird deshalb im dazu korrespondierenden F&E-Projekt „ResearchLin-X“ auf seine Tauglichkeit geprüft. Anhand zweier Anwendungsfälle mit jeweils sehr komplexen Wertschöpfungsketten und Aufgabenstellungen wird einerseits entwickelt und anderseits geprüft, inwieweit sich AMIDS als praxistauglicher Datenraum darstellt: einfach zugänglich, gut handhabbar und datensicher.

„Es wird angestrebt, die Forschungsergebnisse über die vorhandenen – und dann vernetzten – Infrastrukturen der Pilotfabriken mittels Live-Veranstaltungen und Events zu präsentieren“, erklärt Berger-Weber.


Von der Idee bis zum Spritzgussteil

Im Anwendungsfall „Datenintegration über den Produktlebenszyklus von Kunststoff-Spritzgussteilen“, der schwerpunktmäßig an der LIT Factory in Linz angesiedelt ist, steht die Datendurchgängigkeit im Fokus. Bisher wurden hier Daten entlang der Wertschöpfungskette nur sehr eingeschränkt und wenig durchgängig eingesetzt. Obwohl einzelne Bereiche wie CAD/CAM-Kopplung, die Simulation der Fertigung der Werkzeugeinsätze und die Nutzung von Normteilkatalogen bereits einen sehr hohen Reifegrad besitzen, fehlen vergleichbare Lösungen für andere Abschnitte der Wertschöpfungskette. Denn hier gibt es noch keine anwendbaren standardisierten Datenmodelle und Schnittstellen. Der Anwendungsfall zielt u.a. auf die durchgängige Optimierung der Voreinstellung einer Spritzgießmaschine, auch mithilfe künstlicher neuronaler Netze und Assistenzsysteme, ab. Weiters auf eine produktlebenszyklusübergreifende Modellierungs- und Simulationskette am Beispiel der Kunststoff-Bauteilentwicklung und -Produktion bis hin zur Wiederverwertung der Kunststoffteile durch mechanisches Recycling.
 

Weitere Ziele dieses Forschungsvorhabens:

  1. effiziente Nutzung des Datenraums AMIDS für das gemeinsame Design und die standortübergreifende Fertigung eines konkreten Kunststoffbauteils entlang der gesamten Wertschöpfungskette von der Produktidee bis zum fertigen Bauteil
     
  2. Nachweis der höheren Effektivität im Prozess infolge der datenraumbasierten Vernetzung
     
  3. Erstellen eines digitalen Produktpasses im Datenraum AMIDS
     
  4. Optimierung der Energieflüsse in der Fertigung zur ressourcenschonenden, effizienten und nachhaltigen Produktion von Bauteilen
     
  5. sichere und vertrauenswürdige Berechnung des PCF (Carbon Foot Print of Products and Processes) entlang der Wertschöpfungskette auf Basis von Realdaten aus den Fertigungsprozessen


Partner bei diesem Anwendungsfall sind die LIT Factory der JKU Linz, TU Wien, TU Graz, ENGEL AUSTRIA GmbH, motan holding GmbH, Haidlmair GmbH, Westcam Datentechnik GmbH, Siemens AG Österreich, T-Systems Austria GesmbH, Borealis AG, Meusburger Georg GmbH & Co KG.
 

Weiterer Use Case

Im anderen Anwendungsfall wird der gemeinsame Prozess des Co-Designs und der Co-Produktion eines mobilen Manipulators abgehandelt, der die dazu nötigen, jedoch verteilten Kompetenzen und Informationen über den Datenraum AMIDS zusammenführt. AMIDS vereint dazu alle beteiligten und verteilten Ressourcen.
 

Pilotfabrik TU Wien

Die Forschungseinrichtung zeigt die Digitalisierung der Produktion anhand der Fertigung eines 3D-Kunststoffdruckers. Dabei werden die Themen der Industrie 4.0 demonstriert. Schwerpunkte der Forschung sind adaptive und rekonfigurative Fertigung, Simulation/Virtualisierung von Fertigungszellen, Mitarbeiterassistenz in Montage und Logistik, Additive Fertigung sowie Safety und Security. Es gibt 22 Gründungspartner und sieben aktive Partnerunternehmen. Seit 2020 werden in der Infrastruktur der Pilotfabrik jährlich mehr als 20 industrienahe Forschungsprojekte sowie zusätzlich zehn bis 15 geförderte Kleinprojekte über das EIT-Manufacturing – die Initiative der Europäischen Kommission zur Stärkung der Produktion in Europa – durchgeführt. Im März 2021 startete mit dem Projekt EuProGigant ein Leitprojekt für die Nutzung von Gaia-X im Produktionsumfeld.

www.pilotfabrik.at  

„Wichtig ist der niederschwellige Zugang der österreichischen Industrieunternehmen zu den Zukunftsthemen, die sie im internationalen Wettbewerb für ihre Weiterentwicklung brauchen.“
Claudia Schickling, Leiterin Pilotfabrik Industrie 4.0

Pilotfabrik TU Graz

Die Pilotfabrik an der TU Graz widmet sich insbesondere den Themen Agilität und Datensicherheit. Die darin von der Fertigung bis zur Montage dargestellte durchgehende Wertschöpfungskette eines Demonstrators bietet Einblicke und Beispiele für modernste Methoden und Ausführungen in einer digitalisierten Fabrik. In der smartfactory@tugraz finden sich vielfältigste disruptive Technologien (Metall-3D-Druck, Edge-Computing, Cloud-Computing, Bildgestützte Robotik, etc.) und viele Automationslösungen, die gemeinsam eine vollständige Wertschöpfungskette zur Produktion eines Wellgetriebes darstellen. Trotz viel hochspezifischer Automation ist das Wesen dieser Pilotfabrik jedoch ganz eindeutig die Vernetzung, die nicht nur auf der Feldebene (OT), sondern insbesondere in der vertikalen Verbindung zu den Systemen der IT (PLM, ERP, MES) besteht.

www.smartfactory.tugraz.at   

„Die smartfactory@tugraz ist der ideale Ort, um produktionsrelevante Digitalisierung zu erleben. Der Lehr- und Lernort dient dem uneingeschränkten Erfahrungsaustausch, damit die Wirtschaftstreibenden neue Ideen und Lösungsansätze für ihre eigene betriebliche Digitalisierung bekommen können.“
Rudolf Pichler, Leiter smartfactory@tugraz

Pilotfabrik JKU Linz

Die LIT Factory ist eine verfahrenstechnische I4.0-Pilotfabrik an der Johannes-Kepler-Universität (JKU) in Linz. Neben dem Aufbau der Infrastruktur für die Prozessforschung und -digitalisierung entlang der gesamten Wertschöpfungskette in der Kunststofftechnik – beginnend beim Kunststoffgranulat über das Bauteildesign, die Bauteilfertigung bis zum Recycling am Ende des Produktlebenszyklus – war ein wesentlicher Fokus des Errichtungsprojektes die Implementierung einer skalierbaren cloudbasierten Dateninfrastruktur in Form einer Lambda-Architektur zur Ablage und Analyse von Daten unterschiedlichster Art (z. B. Prozessdaten, IR-Bilder, etc.).Dabei wurde für die   Dateninfrastruktur weitgehend auf die Verwendung proprietärer Dienste einzelner Cloudanbieter (MS Azure, AWS, etc.) verzichtet, um die Abhängigkeit von diesen zu reduzieren. Basis hierfür bieten Open-Source-Systeme wie Kubernetes, Apache NiFi und Apache Kafka. Ziel ist u. a. die Nutzung der Dateninfrastruktur zur Entwicklung und zum Betrieb von KI-basierten Digitalen Zwillingen und Assistenzsystemen.
Die LIT Factory befindet sich seit November 2021 im Vollbetrieb.

www.jku.at/lit-factory 

„Mit Digitaler Transformation vernetzen wir die reale mit der digitalen Welt – auch in der Kunststofftechnik. Dabei gewinnt die Anwendung KI-basierter Methoden stark an Bedeutung. Wir erweitern damit physikalische Modelle und menschliches Know-how um datengenerierte Informationen aus der realen Prozesswelt.“
Georg Steinbichler, Leiter LIT Factory


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