18.10.2022
Seit Jahrzehnten träumen Spritzgießer von umfassender Qualitätsregelung und Null-Fehler-Produktion. Trotz der hohen Innovationskraft der Spritzgießbranche gibt es im Hinblick auf höchste Produktqualität und Produktivität noch einige wichtige Hausaufgaben zu erledigen.
Auf dem Weg zu diesem Ziel spielt eine hochgenaue Spritzgießsimulation eine wesentliche Rolle. Sie ist in den vergangenen 15 Jahren zu einem unverzichtbaren Tool bei der Entwicklung von Spritzgießbauteilen geworden.
Eingebettet in einen systematischen Stage-Gate-Entwicklungsprozess lassen sich durch Simulation sowohl Bauteilkosten als auch Entwicklungszeit um bis zu 30 % einsparen. Wesentlich dafür ist, die Werkstoff-Kenndaten für das aktuelle Material zu messen und nicht – wie leider oft üblich – auf Daten unbekannter Herkunft zurückzugreifen. Bei dünnwandigen Bauteilen mit Wanddicken < 1,5 mm muss zusätzlich auch die Druckabhängigkeit der Viskosität gemessen und in der Simulation berücksichtigt werden. In Fallstudien wurde mehrfach bewiesen, dass dadurch die Druckvorhersage sehr genau mit der Realität im Produktionsprozess übereinstimmt.
In Simulationen hoher Genauigkeit ist die praxisnahe Wahl der Randbedingungen wesentlich. Dabei sollten u. a. folgende Fehler vermieden werden: Annahme einer konstanten Werkzeugwandtemperatur, ungenaue Modellierung des Kühlsystems, willkürliche Wahl der Wärmeübergangskoeffizienten im Kühlsystem sowie Nichtberücksichtigung des axialen Schmelzetemperaturprofils im Schneckenvorraum. Die Sigma Engineering GmbH entwickelte hierfür im Rahmen eines Projektes eine Simulationslösung für das Kautschukspritzgießen, die entscheidend zur Steigerung der Genauigkeit der Druckvorhersage beigetragen hat.
Kommerzielle Software bietet heute bereits standardmäßig Seriensimulationen nach statistischen Versuchsplänen an, um bei gezielter Variation der Prozessparameter den Digitalen Zwilling des Prozesses am optimalen Arbeitspunkt und im Arbeitsfenster vorauszuberechnen, innerhalb dessen das Bauteilgewicht und vorab definierte Abmessungen in der erlaubten Toleranz bleiben (z. B. VARIMOS). Werden trotz Optimierung die Toleranzwerte nicht erreicht, so kann simulationsbasiert und nach 3D-Vermessung von Prototyp-Bauteilen die Geometrie in der Kavität im Formenbau geeignet „vorgehalten“ werden, um die geforderten Spezifikationen zu erreichen. Diese Methodik wurde ebenfalls in vielen praktischen Fallstudien erfolgreich angewendet.
15 Jahre Entwicklungszeit tragen Früchte: Die Methode der gekoppelten Spritzgieß- und Strukturmechanik-Simulation mit dem Ziel der Lebensdauerabschätzung von Bauteilen unter dynamischer Belastung ist heute ausgereift und liefert sehr gute Ergebnisse hinsichtlich des Ortes des Versagens und der ertragbaren Lastzyklen. Alle bisher erläuterten Simulationsmethoden betrachten die Kunststoffschmelze allerdings als rein viskose Schmelze, obwohl hinlänglich bekannt ist, dass sich Kunststoffe viskoelastisch verhalten. Diese Vereinfachung führt bei hoch viskoelastischen Kunststoffen wie z. B. Kautschukschmelzen oder thermoplastischen Elastomeren zu enormen Fehlern in der Druckvorhersage. In mehreren Projekten konnten wir gemeinsam mit Prof. Evan Mitsoulis von der TU in Athen sowohl für mehrere Kautschuk-Compounds als auch für eine PP-Type mit 5 % Nanoclay zeigen, dass die tatsächlich beim Einspritzen im Schneckenvorraum gemessenen Drücke nur mit einem viskoelastischen Materialmodell unter Berücksichtigung der druckabhängigen Viskosität exakt vorhergesagt werden kann.
Wollen wir in Zukunft für eine KI-basierte Qualitätsregelung auf Basis neuronaler Netze den ersten Lerndatensatz für den KI-Regler kostengünstig über die Spritzgießsimulation ermitteln, so benötigen wir die beste Simulationsmethodik. Am Lehrstuhl für Spritzgießen von Kunststoffen wurde Anfang Februar 2022 an einem vollautomatisch arbeitenden Produktionssystem mit OPC-UA Kommunikationssystem (IFT-TU Wien), bestehend aus einer Wittmann-Battenfeld Spritzgießanlage mit Peripherie und Roboterentnahme, Qualitätsprüfung von Formteilmasse, Bauteilabmessungen und des Oberflächen-Erscheinungsbildes gezeigt, dass sechs Qualitätsmerkmale mithilfe eines am PCCL entwickelten KI-Qualitätsreglers vollautomatisch innerhalb von maximal drei Schuss wieder in die Mitte des Toleranzfeldes geführt werden konnten. Die Spritzgießsimulation konnte für die Lerndatenerfassung erfolgreich genutzt werden, wodurch letztlich weniger praktische Versuche nötig waren.
Bei kommerzieller Verfügbarkeit von Quantencomputern in hoffentlich fünf bis zehn Jahren sehe ich keine Notwendigkeit mehr, die heute üblichen Vereinfachungen bei Materialdaten und -modellen weiter anzuwenden. Nur ein Materialmodell, das das wirkliche Werkstoffverhalten abbildet, kann zu hervorragenden Simulationsergebnissen führen und die Lernphase von KI-Qualitätsreglern deutlich verbilligen.